Narzissmus und Stalking in der Kennenlernphase
Enttäuschte Liebeserwartungen
Narzissmus und Stalking in der Kennenlernphase? Wie passt das zusammen?
Wenn sich zwei Menschen kennenlernen wollen, dann wünschen sie sich doch den Kontakt? So gesehen, schließen sich doch Narzissmus und Stalking gegenseitig aus?
Und wie sind die Begriffe „Narzissmus und Stalking“ in diesem Zusammenhang überhaupt zu verstehen?
Pathe und Mullen (1997) sehen im Stalking eine „Verhaltenskonstellation, in der eine Person der anderen wiederholt unerwünschte Kommunikation oder Annäherung erzwingt“.
Vielleicht hast Du das auch schon mal erlebt. Du lernst jemanden kennen, übers Internet oder auch im realen Leben, findest es zunächst ja auch alles ganz nett so weit und entschließt Dich aber irgendwann, die Bekanntschaft nicht fortzusetzen. Aus welchem Grund auch immer.
Daraufhin wird die andere Person plötzlich sauer oder wütend, will absolut nicht loslassen und verlangt eine Erklärung – beziehungsweise eine endlose Diskussion.
Kommt Dir das bekannt vor? Narzissmus und Stalking.
Heute habe ich hier ein Beispiel für Dich, das Dich vielleicht überraschen wird. Wer ist hier der Narzisst und wer das Opfer? Oder gibt es vielleicht gar kein Opfer?
Es geht hier um die Kennenlernphase zwischen zwei Menschen, die sich jeweils eine Partnerschaft wünschen.
Mille, über 50, ist schon seit einiger Zeit auf Tinder zugange. Lernt dort auch jemanden kennen, einen, wie sie sagt, „sehr interessanten, intelligenten Mann“. Er heißt Arved.
Sie treffen sich und unterhalten sich ganz wunderbar bis spät in die Nacht.
Mille ist jetzt nicht gleich verliebt, findet Arved nicht anziehend genug für eine romantische Sache. Dennoch will sie ihm aber eine zweite Chance geben, vielleicht auch für eine Freundschaft.
Also schreibt sie ihm und schlägt ein Treffen vor. Für 17 Uhr am gleichen Tag.
Keine Reaktion.
Mille schreibt Arved, dass es durchaus okay ist, wenn er es sich anders überlegt hat und es fairer gewesen wäre, abzusagen. Und sie wünscht ihm alles Gute.
Um 21 Uhr meldet sich Arved plötzlich, meint, er habe die Zeit übersehen, große Entschuldigung, er wolle Mille doch so gern wieder sehen.
Das nächste Treffen, zu einem Konzert, fühlt sich für Mille nicht richtig an. Sie hat den Eindruck, dass er sich gar keine wirkliche Mühe gibt, sie zu sehen.
Dennoch geht sie hin und stellt fest, dass das schlechte Gefühl sehr schnell verfliegt. Der Abend verläuft ganz wunderbar, Mille und Arved kommen sich näher, küssen sich und sie hat das Gefühl, dass er es ebenso schön findet.
Auf dem Heimweg jedoch hat sie den Eindruck, dass er sie loswerden möchte und schnell weg will.
Den Rest der Woche hat er keine Zeit und am Freitag beginnt sein Urlaub. Danach verreist er noch einmal für 2 Wochen. Auch zwischen den Urlauben wird kein Treffen möglich sein, wegen seiner Arbeit und überhaupt hat er ja auch sonst so viel zu tun.
Mille ist enttäuscht, nimmt es aber so hin.
Nein, sie nimmt es nicht einfach hin. Sie ist gekränkt und fragt sich, was er damit bezwecken will.
Aus dem Urlaub kommen einige Bilder.
Mille freut sich.
Zwischen seinen beiden Urlauben darf sie Arved einmal zuhause besuchen. Sie sitzen zusammen auf dem Sofa, kuscheln ein wenig, und dann muss er aber auch noch arbeiten.
Mille geht nach Hause.
Aber er geht ihr nicht aus dem Kopf.
Sie grübelt macht sich Gedanken, überlegt, was sie falsch gemacht hat, und wartet sehnsüchtig auf jede seiner Nachrichten. Entsprechend kippt ihre Stimmung von traurig, depressiv, niedergeschlagen auf himmelhoch jubilierend, und im Handumdrehen auch wieder zurück.
Über jede einzelne Nachricht von Arved informiert sie umgehend ihre Freundinnen.
Immer wieder schickt sie Arved freundliche Grüße und teilt ihm mit, sie sei jederzeit für ihn da, wenn er sie brauche. Er, Arved, könne sich bei Bedarf immer bei ihr melden.
Hier will ich die ganze Sache mal ein wenig abkürzen, denn sie läuft bereits ein halbes Jahr (!), ohne dass ein einziges weiteres Treffen stattfindet.
Irgendwann teilt er Mille mit, er leide an Depressionen.
Mille fällt fast in Ohnmacht vor Schreck. Armer Arved! Sie liest im Internet nach und stellt fest, dass es sich um eine ernsthafte Erkrankung handelt, die deutliche Auswirkungen hat und eine Paarbeziehung zumindest erheblich erschwert.
Mehrfach bietet sie Arved ihre Hilfe an, sie sei jederzeit für ihn da, wenn er sie brauche.
Mindestens einmal täglich telefoniert Mille mit einer Freundin, fragt, was diese dazu meint, was sie, Mille, tun könne für ihren Arved, ob sie ihm mehr Raum geben oder mehr für ihn da sein müsse. Ob er dann wieder zu sich käme?
„Nichts da“, sagen die Freundinnen. „Er soll sich erstmal Mühe geben, dieser Arved.“
„Ja“, meint Mille. „mittlerweile glaube ich auch, dass er selbst erstmal reflektieren muss“.
„Wenn wir uns wieder treffen,“ sagt Mille, „werde ich ihm meine Gefühle beschreiben. Ich denke, dass das in der Anfangsphase wichtig ist. Vielleicht war es ihm nicht bewusst, dass es mich verletzt hat?“
„Ja, er meldet sich nicht. Aber er hat auch momentan den Kopf voll mit Problemen mit seiner Mutter. Das könnte die Erklärung sein.“
“Er war sehr lieb und verständnisvoll, ich war so emotional, dass ich kaum reden konnte, hab natürlich geheult. Aber eher, weil ich es toll fand, dass er angerufen hat.“
„Er hat seinen Status auf Tinder wieder geändert. Auf Suche nach fester Beziehung.“
Und noch immer kann Mille nicht loslassen.
„Das hat mich runtergezogen“, sagt sie, „dass er weder auf das echt schöne und lustige Foto reagiert hat, noch auf meinen Text. Er hat nur kurz angebunden ohne echten Emoji geantwortet.“
Bis ihr irgendwann auch die Geduldigste ihrer Freundinnen sagt, sie solle sich doch nicht verrückt machen wegen einem Mann, den sie gerade mal, was, zwei- oder dreimal gesehen habe und den sie ja, wenn man mal ehrlich sei, überhaupt nicht kenne.
Mille bricht daraufhin den Kontakt zu ihren Freundinnen ab.
Mit der Begründung, es sei so unglaublich schwer für sie, mit der ganzen Sache zurechtzukommen. Das belaste sie und sei unnötig.
Sie habe auch so schon genug Stress.
Ja, Mille fühlt sich als Opfer. Aber ist sie das auch?
Warum kann Mille diesen Mann nicht loslassen?
Enttäuschte Liebeserwartungen sind es, das gibt Mille mir gegenüber bereitwillig zu.
Okay, nicht ganz enttäuscht, denn sie hat ja immer noch Hoffnung. Vielleicht wird es ja noch was mit ihm! Wenn sie nur genügend Geduld hat, lange genug wartet, ihm immer wieder signalisiert, dass er nicht allein ist, dass sie jederzeit da ist, um ihm zu helfen…
Selbstlos, nicht wahr? Das klingt doch echt so gar nicht nach Narzissmus und Stalking? Selbstlose Hilfe ist doch kein Narzissmus! Das hat doch mit Stalking nichts zu tun?
Meiner Meinung nach ist Milles Hilfsangebot aber nicht so selbstlos, wie es zunächst scheint. Sondern durchaus in Milles Interesse: um nämlich den von ihr gewünschten Kontakt zu halten und den Mann auch wieder sehen zu können. Ohne dass man dies als Narzissmus und Stalking bezeichnen könnte. Denn es klingt ja an sich durchaus legitim.
Ich persönlich muss hier im Gespräch vorsichtig vorgehen, um Mille nicht zu kränken. Denn damit werde ich ihr nicht helfen können, sondern sie wird meinen Praxisraum wahrscheinlich umgehend verlassen und nicht wiederkommen.
So, wie sie es mit ihren (teils langjährigen) Freundinnen ja auch getan hat.
Was ist hier los?
Dass hier eine toxische Bindung entstanden ist, brauche ich nicht weiter zu erklären. Der Mann bleibt ganz deutlich auf Abstand zu Mille, blockiert sie sogar zeitweise auf WhatsApp, lässt sie aber dann doch nicht ganz fallen. Schickt immer wieder freundliche Nachrichten. Holt sie wieder zurück. Stößt sie wieder von sich.
Nach dem Push-Pull-Prinzip also. Was ja bekanntlich durchaus auch Suchtpotenzial hat.
Dennoch sollte es den meisten Menschen möglich sein, hier irgendwann die Reißleine zu ziehen. Schon mal erst recht bei einem Gegenüber, den man gerade erst kennenlernt, von dem man so gut wie gar nichts weiß und mit dem es kein einziges befriedigendes Treffen gegeben hat.
Es ist ja nicht so, als hätten sich die beiden, Mille und Arved, in einer jahrelangen Beziehung befunden, wobei ja durchaus auch Abhängigkeiten entstehen können. Was vollkommen verständlich ist.
Da stellt sich nun also die Frage, was läuft hier ab?
Wobei ich den Fokus definitiv auf Mille legen möchte, nicht jedoch auf einen fremden Mann, den ich nicht kenne.
So kommen wir auf das Thema „Narzissmus und Stalking“
Warum versteift sich Mille so dermaßen auf diesen Mann? Sie war doch beim ersten Treffen noch nicht einmal in ihn verliebt.
Warum also muss sie ihn nun unbedingt haben?
Was ist es, was sie hier so fesselt?
Mille ist enttäuscht. Sie hat sich etwas vorgestellt, erhofft und auch gewünscht, was dann doch anders gelaufen ist, als sie sich erhofft und gewünscht hatte.
Und das muss jetzt, so meint sie (auch wenn sie es mir gegenüber deutlich anders formuliert), auch unbedingt eintreten. Dafür will Mille alles tun!
Mille hofft, bangt und diskutiert.
Was sie nicht tut, ist, den Mann genau anzuschauen. Wer ist er? Was will er?
Sie kann nur das erkennen, was sie selber will.
Seine Ideen, seine Vorstellungen, seine Wünsche, auch seine psychische Beschaffenheit gehen vollständig an ihr vorbei.
Um das erkennen zu können, würde sie deutlich mehr Abstand zu ihm brauchen. Damit sie überhaupt den Blick auf den ganzen Mann richten kann und nicht nur einen Bruchteil seines Gesichts sieht.
Stattdessen verschwimmen in ihrer Vorstellung gewissermaßen die Grenzen zwischen ihr und dem Gegenüber. (Eins der Phänomene übrigens, die auch mit Narzissmus in Verbindung gebracht werden). Mille erträumt sich von ihm etwas, das er ihr aber nicht geben kann. Sie sieht ihn bereits als Partner, da ist er noch nicht einmal ein guter Bekannter.
Die vorübergehende Blockade auf Social Media beispielsweise könnte ein Abgrenzungsversuch von ihm sein, wobei er einfach mal ein wenig Abstand benötigt. Sie kann das aber nicht in dieser Weise anerkennen. Sie erkennt nur die eigene Verletzung, nicht jedoch sein Bedürfnis.
Widersinnig ist das eigentlich. Denn obwohl sie sich so auf den Mann fokussiert, Tag und Nacht über ihn nachdenkt, sich über seine Depression informiert und ihm ganz offen ihre Hilfe anbietet, kann sie ihn gar nicht sehen, wie er ist.
Und versucht stattdessen krampfhaft, irgendwie Kontakt zu halten. Narzissmus und Stalking!
Mille hat sich in das von ihr erträumte Bild von Arved verliebt, nicht jedoch in den Mann selbst.
Und nun ist sie enttäuscht.
„Enttäuschte Liebeserwartungen können mehr als alles andere das narzisstische Störungsspektrum auslösen.“ So schreibt Reinhard Haller1, ein österreichischer Psychiater, Psychotherapeut und Buchautor.
Und er nennt, grob gesagt, vier Kriterien für den Narzissmus: Egozentrizität, Empfindlichkeit, Empathiemangel und Entwertung.
Nun will ich hier keineswegs behaupten, dass Mille eine narzisstische Persönlichkeitsstörung hat. Wäre das so, könnte ich ihr auch überhaupt nicht helfen.
Aber ich erkenne da durchaus gewisse narzisstische Anteile. Und da kann ich durchaus zusammen mit ihr ansetzen – wenn auch mit aller Vorsicht und mit viel Fingerspitzengefühl.
In meinen Augen ist Mille durchaus auch ein wenig egozentrisch in dem Sinn, dass sie sich bei ihren Gedanken um diesen Mann immer nur um sich selbst dreht. Es geht da um ihre Gefühle, ihre Enttäuschung, ihre Träume.
Milles Blick geht jedoch nicht zu Arved hin. Seine Gefühle, Enttäuschungen, Träume kann sie nur insofern erkennen, als sich diese mit ihren eigenen Gefühlen, Enttäuschungen und Träumen decken.
Diesen Kreis der Selbstbetrachtung, in dem Mille gefangen ist, können wir gemeinsam zu unterbrechen versuchen, um den Blick wieder mehr ins Außen zu richten.
Empathiemangel und Entwertung sehe ich bei Mille in Bezug auf ihre Freundinnen. Sie haben sich alle sehr intensiv mit dieser Sache befasst und auch viel Zeit hineingesteckt.
Am Ende jedoch müssen sie sich dann von Mille anhören, sie seien hämisch und nur daran interessiert, dass es ihr schlecht gehe.
Und ihre Ratschläge seien auch nur Müll.
Wenn das nicht abwertend ist!
Mille ist sehr empfindlich und kann schlecht mit Kritik umgehen
Und das, obwohl sie ja ganz eindeutig Hilfe braucht und sogar auch darum bittet.
Sie hat sich die Hilfe ihrer Freundinnen geholt und sich dann nach dem Kontaktabbruch an mich gewandt. Diese letztere Entscheidung war, denke ich, ein sehr mutiger Schritt, denn Mille weiß, dass es mir nicht darum geht, sie ständig zu bestätigen in dem Wunsch, das gezeigte Verhalten so fortzusetzen, oder sie ausschließlich und immer nur zu verstehen in ihrer Not. Ich werde durchaus nicht immer nur das sagen, was sie hören will, und dazu muss sie ihre Komfortzone verlassen und das fällt uns allen oft schwer.
Daher habe ich sehr viel Respekt vor Mille und auch große Zuversicht, dass sie es schaffen wird, ein unabhängiger Mensch zu werden.
Und sich nicht weiter von dem Zuspruch fremder Menschen abhängig zu machen.
(Und sich vielleicht sogar bei ihren Freundinnen zu entschuldigen).
So viel zum Thema „Narzissmus und Stalking“.
Barbara Schmidt, M.A.
Mein Name ist Barbara, Paarberaterin und Gründerin der Online-Beziehungswerkstatt Albatros im Rahmen der Paarberatung Bremen. Ich helfe Dir bei schwierigen Eheproblemen oder wenn Du einfach mal eine Beziehungsberatung brauchst, aber keine Lust hast, dafür gleich eine jahrelange Therapie machen zu müssen.
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